In der letzten Zeit stolpere ich im Internet oft über Sätze wie „Lese diesen Artikel“, „Nehme an meiner Challenge teil“ oder „Gebe dein Bestes“. Hm. Lese? Nehme? Gebe? Da stimmt doch was nicht? Ja, da ist wieder jemand in die Imperativ-Falle getappt! Korrekt wäre „Lies diesen Text“, „Nimm an meiner Challenge teil“ und „Gib dein Bestes“.
Der Imperativ für korrekte Calls-to-action
Der Imperativ ist die sogenannte Befehlsform. Aber natürlich brauchen wir sie nicht nur für einen klassischen Befehl, sondern auch für Aufforderungen oder Einladungen. Zum Beispiel in Calls-to-action, der Aufforderung auf einer Webseite oder in einem Social-Media-Post, einen Blogartikel zu lesen oder einen Newsletter zu abonnieren. Das geht zwar auch wunderbar ohne den (doch recht fordernden) Imperativ, aber hier wird er oft verwendet. Ebenso wie in einer Überschrift, die zum Lesen einlädt, in Schritt-für-Schritt-Anleitungen und in vielen anderen textlichen Situationen.
Umso wichtiger ist es, dass Sie den Imperativ korrekt benutzen. Denn Sie möchten ja nicht in die Imperativ-Falle tappen, sondern möglichst fehlerfrei schreiben! Das ist in den meisten Fällen auch nicht weiter problematisch, nämlich wenn Sie Ihre Leser:innen als „ihr“ ansprechen oder wenn Sie Ihre Leser:innen siezen. Interessant wird es beim Du, das ja gerade in den sozialen Netzwerken und auf Websites gerne verwendet wird.
Den Imperativ Plural richtig bilden
Wie funktioniert er denn nun eigentlich? Und wie kann Loriot dabei helfen? Eigentlich ist es gar nicht kompliziert, vor allem die Plural-Formen nicht. Ich bin sicher, Sie machen das automatisch richtig, aber wir rufen uns kurz in Erinnerung, wie sie gebildet werden: Sie verwenden einfach die entsprechende Präsensform des Verbs .
So sieht das dann in der 2. Person Plural, also bei der Aufforderung oder Bitte an mehrere Personen, aus:
kochen
nehmen
lesen
ihr kocht
ihr nehmt
ihr lest
kocht!
nehmt!
lest!
Und wenn Sie Ihre Leser:innen siezen, brauchen Sie die 3. Person Plural. Auch da reicht die ganz normale Präsensform, Sie brauchen den Satz nur umzustellen:
wählen
schreiben
lesen
Sie wählen
Sie schreiben
Sie lesen
Wählen Sie!
Schreiben Sie!
Lesen Sie!
Ganz einfach, oder? Dann schalten wir jetzt einen Gang hoch!
Den Imperativ Singular richtig bilden
Nehmen wir einmal an, dass Sie Ihre Leser:innen duzen. Sie brauchen den Imperativ Singular – das ist laut Duden die einzige spezifische Imperativform, denn wir haben ja gerade gesehen, dass die Verbform im Plural gleich bleibt.
Der Imperativ Singular ist nichts anderes als der Verbstamm (also der Infinitiv ohne die Endung -en), an den man noch ein e anhängen kann (aber nicht muss!)
geh|en
träum|en
schlaf|en
geh/geh|e
träum/träum|e
schlaf/schlaf|e
Übrigens: Ein Apostroph gehört da nicht hin, auch nicht, wenn Sie die Version ohne e verwenden.
Auch ganz einfach, oder? Das wäre fast schon alles – wenn es nicht noch Sonderformen geben würde. Die gucken wir uns jetzt auch noch an.
Das e muss an den Präsensstamm angehängt werden bei Verben, die auf -eln oder -ern enden und solchen, deren Präsensstamm auf -d, -t, -ig oder Konsonant und -m oder -n endet. Zum Beispiel:
beruhig|en
biet|en
widm|en
beruhig|e!
biet|e!
widm|e!
Nun noch der letzte Sonderfall – hier lauert die Imperativ-Falle, und hier kommt nun endlich Loriot ins Spiel! Starke Verben, die im Präsens zwischen e (im Stamm) und i oder ie wechseln, übernehmen diesen Wechsel nämlich auch im Imperativ. Dafür lassen sie das e am Ende weg. Man könnte auch sagen, man lässt bei diesen Verben einfach von der 3. Person Singular die Endung weg und schon hat man den Imperativ:
geben
nehmen
lesen
gib|t
nimm|t
lies|t
gib!
nimm!
lies!
"Lies", nicht "Lese" - Loriot als Gedächtnisstütze
Ein perfektes Beispiel zeigt Loriot uns im Zeichentrick-Sketch „Feierabend“, in dem die Ehefrau, nachdem sie ihren Mann mit ihren Fragen fast bis zur Weißglut genervt hat, durchdringend vorschlägt: „Dann liiiiieees doch mal was!“ Wenn Sie das im Ohr haben, erinnert es Sie daran, dass einige Imperativ-Formen mit i oder ie gebildet werden! Vorsichtshalber können Sie sich vorstellen, dass Sie den fraglichen Satz nicht schreiben, sondern zu jemandem sagen wollen. Ich bin sicher, dass Sie die Falle dann umgehen und den Imperativ automatisch richtig bilden.
Wenn ich Sie also duzen würde und Sie mehr darüber wissen wollten, wie die Zusammenarbeit mit mir funktioniert, könnte mein Call-to-action mit korrekt gebildetem Imperativ so aussehen:
Gar nicht so schwer, oder? Sie dürfen gerne dem korrekt gebildeten Imperativ folgen und auf den Button klicken ;-)
Kommentar schreiben
Volker Kleinschmidt (Freitag, 08 Juli 2022 17:50)
Ein Teil der Verwirrung bei "lies" und "lese" kommt vielleicht von der altertümlichen Verwendung des Subjunktivs in der Literatur, z.B. "Lese er mir den Brief vor!", adressiert an einen Untergebenen.
Umgangssprachliche Verschleifung hat auch damit zu tun, dass man sich an den anderen Klang gewöhnt, und ihn irgendwann als richtig/natürlich empfindet. Gerade im Dialekt wird oft "les", "nehm", oder "geb doch her" benutzt.
Übrigens haben sich hier ein paar Fehler eingeschlichen: die Überschrift "Den Infinitiv Singular richtig bilden" sollte natürlich "Den Imperativ Singular richtig bilden" heißen. Und statt "anders" sollte da "anderes" stehen (in "ist nichts anders als"). Und bei "dass es einige Imperativ-Formen" ist "es" zuviel.
Schöner Artikel, klar, hilfreich, kompetent. Danke!
Birgit Susemihl (Samstag, 09 Juli 2022 08:33)
@Volker Kleinschmidt: Vielen Dank für die Hinweise und das Lob!
Sonja Kühn (Montag, 25 Juli 2022 10:00)
Ich bin sehr dankbar für Ihren Artikel. Ich war nun schon völlig verwirrt, weil es mit dieser Fahrigkeit bezüglich des Imperativs sehr um sich greift. In Bussen sind Hinweisschilder geklebt, die den Imperativ Singular nicht zu kennen scheinen. Und vermutlich bin ich dahinter gekommen, warum die Fehlbildung auch im Internet so stark um sich greift. In der Rechtschreibkorrektur von Microsoft kommt das Wort "Lies" gar nicht vor. Das markiert er mir rot als Fehler. Und wer lässt sich davon nicht leiten...
Ich kann mir den Imperativ mit I gut merken, da ich mich an einen anderen Witz aus dem Fernsehen erinnere, den ich hier aber leider nicht in Gänze wiedergeben kann. Aber ich habe die Stimme der Ehefrau des Loriot-Sketches sofort im Ohr gehabt, auch super!
KD (Donnerstag, 20 Oktober 2022 10:39)
Hervorragender Artikel, danke. Ich habe gerade einen Kollegen darauf aufmerksam machen wollen, dass er mir gerne Texte zum Korrekturlesen schicken darf, aber nur, wenn er "lies" schreibt, statt "lese". Mit Loriot konnte ich die Kritik freundlich und lustig verpacken; das wirkt weniger kleinkariert.
Lukilue L (Donnerstag, 02 März 2023 20:51)
Danke für den Artikel, er ist sehr hilfreich.
Ich habe in Word einen Text geschrieben mit "lies" - Microsoft Words Autokorrektur hat mir das Wort unterwellt. Da ich aber normalerweise ein sehr gutes Sprachgefühl habe und sich "lies" vollkommen richtig angefühlt hat, habe ich lieber nochmal nachgeschaut. So bin ich auf die Webseite gestoßen und war froh, dass sich Word und nicht ich geirrt habe.
Nochmal vielen Dank!
Birgit Susemihl (Freitag, 03 März 2023 10:47)
@Lukilue L
Vielen Dank, das freut mich!
Ja, Word unterkringelt oft sehr merkwürdige Sachen. Man sollte sich besser nicht blind drauf verlassen. Eher als Hinweis nehmen zum Nochmal-Nachgucken.
takeda (Mittwoch, 12 April 2023 12:57)
Gute Erklärung, vor allem das Loriot-Beispiel. Ich habe allerdings Bedenken, ob die junge Generation damit etwas anfangen kann. Mir ist diese Unart in letzter Zeit bei meiner Chefin aufgefallen und ich suchte noch nach einer freundlichen Erklärung :). Jetzt habe ich sie gefunden. Der letzte Anlass für meine Suche war heute die Autokorrektur von Outlook.
Julia (Donnerstag, 29 Juni 2023 11:40)
Vielen Dank für diesen schönen und offenbar nötigen Beitrag. Mir ist heute aufgefallen, dass tatsächlich auf jeder Amazon-Produktseite unter den (gekürzt angezeigten) Rezensionen steht: "Lese weiter". :-/ Kein Wunder, wenn die Kids es dann auch falsch machen.
Helene (Sonntag, 09 Juli 2023 15:22)
Hallo, vielen Dank für die Erkärung. Ich wundere mich schon eine ganze Weile, dass ich immer wieder die Aufforderung "Lese" statt "Lies" bzw. "Esse" statt "Iss" höre oder lese. Am meisten wundert es mich, dass ich die Aufforderung "Lese" auch immerwieder auf Arbeitsblättern finde, die die Kinder in der Schule von den Lehrern erhalten. Daher frage ich mich, ob es hier irgendwann eine Änderung gab. Im Zuge der Rechtschreibreform - vielleicht auch eine kleine Grammatikreform?
Sonja (Samstag, 09 Dezember 2023 23:31)
Selbst Schulbuchverlage erwenden auf Arbeitsblättern den Imperativ "lese"....
Ich überlege, ob ich das jedes Mal vor dem Kopieren korrigiere, weil es micv schon sehr stört!
Sonja (Samstag, 09 Dezember 2023 23:33)
... und selber treffe ich die Buchstaben auf der Handy-Tastatur nicht mehr.... ;-)
Luciano (Donnerstag, 22 Februar 2024 19:02)
Echt jetzt? Da wird ein ellenlanger Text verfasst, um Lesern die tiefsten Geheimnisse der deutschen Grammatik näher zu bringen und dann werden vom Autor selbst Bezeichnungen wie "Leser:innen" verwendet, die nicht im mindesten korrekter deutscher Grammatik entsprechen, sondern lediglich einer ideologiebasierten Fantasiesprache entsprungen sind. Die zugrundeliegende Ironie ist irgendwie amüsant.
Nicole (Montag, 04 März 2024 21:08)
Die Deutschlehrerin (bayerisches Gymnasium) unserer Tochter sagt und schreibt "Lese diesen Text bitte" und "entwerfe ..." Unsere Tochter hat sie gefragt, ob es nicht richtigerweise "lies" und "entwirf" heißen müsse. Worauf die Lehrerin kurz nachdachte und ihr erklärte, das könne man auch sagen, sei aber veraltet. Korrekt sei "lese" und "entwerfe".
Birgit Susemihl (Dienstag, 05 März 2024 09:26)
Hallo @Nicole, vielen Dank für deinen Kommentar! Da irrt die Lehrerin tatsächlich. Auch der Duden bietet keine alternativen Formen zu "lies" (https://www.duden.de/konjugation/lesen_dozieren) und "entwirf" (https://www.duden.de/konjugation/werfen). Wenn mehrere Varianten möglich sind, führt er sie sehr zuverlässig auf. Toll, dass deine Tochter so aufmerksam ist!
Christian Schulz (Samstag, 16 März 2024 09:59)
Der Beitrag #1 von Herrn Volker Kleinschmidt vom 08.07.2022 ist meiner Meinung nach nicht richtig. Statt des Subjunktivs „Lese er mir den Brief vor!“ wäre beim „Erzen“ „Liest Er mir den Brief vor!“ die richtige (veraltete) „Befehlsform“ gewesen.
Siehe „Wikipedia“: https://de.wikipedia.org/wiki/Höflichkeitsform#Anrede_in_der_3._Person_Singular_(„Er“/„Sie“,_„man“)
Printer (Montag, 01 April 2024 11:40)
@Helene @Sonja @Nicole: Ja, das ist kaum zu glauben. Lehrkräfte verwenden diese Formen und ebenso Verlage auf Arbeitsblättern. Man fragt sich dann wirklich: Habe ich etwas versäumt? Haben sich die falschen Verwendungen mittlerweile so eingebürgert, dass sie grammatikalisch inzwischen als Alternativen für den mündlichen und schriftlichen Sprachgebrauch akzeptiert werden?
Übrigens: Früher gab es Bonbons, die "Nimm 2" hießen und der Werbeslogan lautete "Nimm 2, denn Naschen ist gesund!" Wenn auch die Werbebotschaft vollkommen unzutreffend war (seit wann ist eine Mischung aus Zucker + Farb- und Aromastoffen gesund?), stimmte immerhin die Imperativform! ;-)
Thomas M (Donnerstag, 14 November 2024 08:30)
Und korrekt ist Leser und nicht Leser:innen